Diskriminierungserfahrungen von fürsorgenden Erwerbs- tätigen im Kontext von Schwangerschaft, Elternzeit und Pflege von Angehörigen
Die vorliegende Studie setzt an zwei zentralen gesellschaftlichen Entwicklungen an. Zum einen ist zu beobachten, dass immer mehr Eltern die traditionelle geschlechtsspezifische Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit aufbrechen. Die Bedeutung der Berufstätigkeit für Mütter hat zugenommen. Zwei von drei Frauen geben heutzutage an, dass ihnen für die eigene Lebensqualität eine eigene Berufstätigkeit „sehr wichtig“ ist (Prognos, 2016). Diese Einstellung schlägt sich auch im Erwerbsverhalten nieder: Die Erwerbstätigenquote von Müttern hat in den letzten Jahren stark zugenommen und liegt aktuell bei rund 75 Prozent, was einen Anstieg in den letzten zehn Jahren von knapp 10 Prozentpunkten bedeutet (Destatis, 2019).
Die partnerschaftliche Wahrnehmung von familiären Betreuungsaufgaben und Erwerbstätigkeit hat vielerorts an Bedeutung gewonnen. So gibt es immer mehr Väter, die im Beruf temporär kürzertreten, um sich Betreuungs- und Erziehungsaufgaben zu widmen. Statistisch zeigt sich das zum Beispiel daran, dass immer mehr Männer in Deutschland Elterngeld beziehen und sich damit Zeit für ihre Kinder nehmen. So ist seit Einführung des Elterngelds im Jahr 2007 der Anteil der Eltern und insbesondere der Anteil der Väter in Elternzeit stark angestiegen. Die Väterbeteiligung1 lag für im Jahr 2017 geborene Kinder bei über 40 Prozent gegenüber rund 20 Prozent für im Jahr 2008 geborene Kinder (Destatis, 2020). Neben den Vereinbarkeitserfordernissen im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung und einer Berufstätigkeit führt die Alterung der Bevölkerung dazu, dass die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Angehörigenpflege für immer mehr erwerbstätige Menschen an Bedeutung gewinnt. Der Pflegestatistik (Destatis, 2017) zufolge wurden 76 Prozent der Pflegebedürftigen zu Hause versorgt (2007: 68 Prozent) und in einem Großteil dieser Fälle erhielten sie ausschließlich Pflegegeld, das heißt, sie wurden allein durch Angehörige gepflegt. Der informellen Pflege, also der Pflege, die nicht durch professionelle Anbieter*innen erfolgt, wird auch im Gesetz Vorrang vor formeller, stationärer Pflege eingeräumt.2 Dabei gibt es Hinweise, dass Pflegeaufgaben häufig
einem Tabu unterliegen und ein offener Dialog mit dem*r Arbeitgeber*in selten stattfindet (Renaud et al.,2014). Mit Blick auf die demografische Entwicklung ist zudem davon auszugehen, dass die informelle Pflege durch erwerbstätige Angehörige zunehmen wird (Geyer & Schulz, 2014).
Im Juni 2019 hat der Rat der Europäischen Union die Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige („Work-Life-Balance-Richtlinie“) angenommen. Die Richtlinie soll den Rechtsrahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben schaffen und Beschäftigte vor Diskriminierung schützen, wenn sie Eltern- beziehungsweise Pflegezeiten oder flexible Arbeitszeitregelungen in Anspruch nehmen. Die EU-Mitgliedstaaten müssen die Richtlinie bis spätestens August 2022 in nationales Recht umsetzen. Parallel zur vorliegenden Studie wurde ein von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes beauftragtes Rechtsgutachten erstellt, das eine rechtliche Einordnung der
Diskriminierung von Fürsorgeleistenden vornimmt und sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Defizite beim Schutz der Betroffenen bestehen und inwiefern hieraus sowie aus den Vorgaben der umzusetzenden Richtlinie Änderungsbedarf folgt (Thüsing & Bleckmann, 2022)
Beruf und Privatleben zu vereinbaren, ist insbesondere für Familien mit Kindern oder Personen mit Pflegeaufgaben Wunsch und Herausforderung zugleich. Der Versuch, proaktiv einen angemessenen Ausgleich zwischen beruflichen und privaten Anforderungen zu gestalten, kann für Beschäftigte von Furcht vor beruflichen und karrierebezogenen Nachteilen und diskriminierenden Erfahrungen begleitet sein. In den Beratungsanfragen und Beschwerden, die bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes eingehen, spiegelt sich wider, dass es für Eltern und pflegende Angehörige zu Benachteiligung am Arbeitsplatz kommen kann. Bisher liegen für Deutschland jedoch kaum empirische Studien vor, die belastbare Erkenntnisse zu
Diskriminierungserfahrungen im Kontext von Schwangerschaft, Elternzeit und der Pflege von Angehörigen liefern. Angesichts dieser Ausgangslage gab die Antidiskriminierungsstelle des Bundes die vorliegende Studie in Auftrag.
Das Forschungsvorhaben nimmt die Erfahrungen von fürsorgenden Erwerbstätigen im Arbeitskontext in den Blick. Darunter fallen einerseits Eltern mit Aufgaben der Kinderbetreuung und andererseits Personen, die informell Angehörige pflegen. Mit informell Pflegenden sind hier Personen gemeint, die pflegebedürftige Angehörige nicht erwerbsmäßig pflegen oder betreuen.
Im Zusammenhang mit dem Elternsein und der Pflege von Angehörigen sind bestimmte Phasen zu unterscheiden. Für Eltern können Herausforderungen bereits vor der Geburt beginnen. Während der Phase der Schwangerschaft nimmt die Kommunikation mit Vorgesetzten und Kolleg*innen eine zentrale Rolle ein. Die Bekanntgabe der Schwangerschaft läutet eine neue Situation und eventuelle Vorbereitungen im Arbeitsumfeld ein. Mögliche Veränderungen in der Berufsplanung betreffen nicht nur die werdenden Eltern, sondern auch ihr berufliches Umfeld. Dasselbe gilt, wenn Beschäftigte ihr Arbeitsumfeld über einen Pflegefall in der Familie und die anfallenden Aufgaben informieren. Mit fortschreitender Schwangerschaft
können arbeitsorganisatorische Aspekte im Zusammenhang mit der Geburtsvorbereitung und Pläne rund um mögliche berufliche Auszeiten durch Mutterschutz und Elternzeit an Bedeutung gewinnen. Die familienbedingte Auszeit während des Mutterschutzes und der Elternzeit markiert eine Zäsur im Berufsleben und ist gekennzeichnet durch die vollständige oder teilweise Reduzierung der Arbeitszeit. Mit dem Wiedereinstieg in die berufliche Tätigkeit nach einer Familienpause beginnt für Eltern eine Phase großer Veränderungen im Alltag. Die beruflichen Herausforderungen und Ansprüche der Kinderbetreuung und -erziehung sind unter einen Hut zu bringen. Mit den zusätzlichen Aufgaben im privaten Umfeld können für
Eltern Themen rund um Arbeitszeitmodelle relevanter werden, die auch den/die Arbeitgeber*in, Vorgesetzte oder Kolleg*innen betreffen.
Im Fokus der vorliegenden Studie steht die Frage, inwiefern sich Beschäftigte in diesen unterschiedlichen Phasen im Arbeitsleben diskriminiert fühlen. Da jede Pflegesituation individuell sehr unterschiedlich sein kann, werden für die Zielgruppe der Pflegepersonen keine einzelnen Phasen unterschieden. Es werden jedoch auch die Erfahrungen von Pflegepersonen im Zusammenhang mit der gesetzlichen Pflegezeit und Familienpflegezeit untersucht. Die einzelnen Phasen, die in der Studie betrachtet werden, sind im Folgen-den überblicksartig zusammengefasst:
_ die Zeit vor der Geburt eines Kindes, also insbesondere die Bekanntgabe der Schwangerschaft/ Elternschaft und die Beantragung der Elternzeit bei dem/r Arbeitgeber*in;
_ während des Mutterschutzes sowie der Elternzeit (inklusive Teilzeitarbeit während Elternzeit);
— nach der Rückkehr in die berufliche Tätigkeit aus Mutterschutz und/oder Elternzeit;
— während der kurzzeitigen oder längeren informellen Pflege von Angehörigen (sowohl im Kontext von Pflegezeit/Familienpflegezeit als auch unabhängig davon).
Die Beschwerdedaten der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und anderer Beratungsstellen liefern einen Einblick in Diskriminierungserfahrungen unter Beschäftigten mit Fürsorgeaufgaben. Die vorliegende Studie soll eine empirische Datengrundlage dazu schaffen, wie verbreitet Diskriminierungserfahrungen unter Eltern und Pflegepersonen im Arbeitsleben sind, auf welche Art und Weise sie sich diskriminiert fühlen und in welchen der oben genannten Phasen im Arbeitsleben Diskriminierungserfahrungen gemacht werden. Damit hängt die Frage zusammen, wie Eltern und Pflegepersonen die familienfreundliche Ausgestaltung der Unternehmens-/Organisationskultur ihres/r Arbeitgebers*in beurteilen. Eine zentrale
Frage ist auch, mit welchen Folgen und Auswirkungen diskriminierende Erfahrungen für die Betroffenen verbunden sind. In der Studie wird untersucht, wie Eltern und Pflegepersonen mit diskriminierenden Situationen umgehen, welche Unterstützung sie in Anspruch nehmen, wie sich die Erfahrungen auf ihr Wohlbefinden und ihre berufliche Situation und unterschiedliche Lebensbereiche auswirken. Zudem ist es Ziel, dass sich Eltern und Pflegepersonen zu Wort melden, um ihre Wünsche und Vorschläge für Unterstützungsangebote zu äußern. Aus den Ergebnissen werden Handlungsfelder für die Prävention von Diskriminierung von Fürsorgeleistenden und für Interventions- und Unterstützungsmöglichkeiten im Diskriminierungsfall abgeleitet. Zentrale Fragestellungen des Forschungsvorhabens sind im Einzelnen:
_ Welche diskriminierenden Situationen im Arbeitsleben erleben Beschäftigte mit Betreuungsaufgaben im Kontext von Schwangerschaft, Elternzeit oder der informellen Pflege von Angehörigen?
— Welche Auswirkungen haben die Erfahrungen auf die Betroffenen und ihre berufliche Situation und wie reagieren sie darauf?
— Wie beurteilen Betroffene die Unternehmens-/Organisationskultur ihres/r Arbeitgebers*in im Hinblick auf Vereinbarkeitsthemen sowie entsprechende Unterstützungsangebote?
— Wie beurteilen Beschäftigte mit Betreuungsaufgaben ihre Lebens-/Arbeitszufriedenheit im Vergleich zu Beschäftigten ohne Betreuungs- oder Erziehungsaufgaben?
— Welche Unterstützungsangebote beziehungsweise Veränderungen im Umgang mit Diskriminierung und zur Verbesserung der Vereinbarkeit wünschen sich Beschäftigte mit Betreuungsaufgaben?